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Skeletal Remains mit The Vanishing & Phantom Limbs
Anatomische Wunder
Gespannt, was mich an diesem Abend alles erwarten würde, machte ich mich am 23. Oktober 2004 auf den Weg in den Berliner Club Mad N Crazy, um endlich wieder einmal zwei ausgezeichnete Bands von meiner "habe ich noch nicht live gesehen Liste" streichen zu können. Da ich nur pünktlich zum geplanten Konzertbeginn da war, weil ich die Schnelligkeit der Berliner Verkehrsbetriebe unter - und die Wegstrecke von mir bis zum Club überschätzt hatte, fiel mir die "Noch-Nicht-Anwesenheit" der anderen Konzertbesucher auf und das "sich bis zum Konzert die Füße in den Leib stehen" doppelt schwer. Die Wartezeit auf das Konzert hielt sich mit 30 Minuten objektiv dann eh im normalen Rahmen.
Endlich war es dann soweit und the Vanishing aus den USA traten mit einer zweiköpfigen Besetzung den Weg auf die Bühne an, um dem Publikum ihren eigenwilligen Musikstil näher zu bringen. Die Frontfrau/Saxophonistin und der Schlagzeuger bewiesen gleich von der ersten Minute an, wie eine richtige Bühnenshow ohne kostspielige Accesoires und ohne großartiges Equipment abzulaufen hat. Es wurde geschriehen, getanzt, getrommelt, "gesaxophoniert" und gehüpft. Die Stimme von Jesse Eva gepaart mit experimentellen Saxophonklängen, mit Synthies und dem treibenden Drumteppich ist ebenso anstrengend wie mitreißend und auf jeden Fall ein Hörerlebnis. Den Musikstil von "The Vanishing" einzuordnen, ist ungefähr so schwer wie der Versuch, einen wütenden Stier mit einem Lasso aus Nudeln zu fangen. Ihre Musik klingt aber so, als ob Frau Holle auf Speed sich lautstark mit den sieben Zwergen um ein und dasselbe Saxophon streitet und dabei von einem Haufen brünftiger aneinanderschlagender Prellböcke begleitet wird. Diese Beschreibung mag jetzt musikwissenschaftlich nicht ganz korrekt sein, zeigt aber das Gefühl ganz gut, das ich beim Betrachten dieser Show bekam.
Die Silberlady - wer die Fotos anschaut, weiß was gemeint ist - heizte mal am Mikro und mal am Saxophon dem Publikum richtig ein und bewies eindrucksvoll, dass es schon Sprunggelenksprothesen aus Gummi geben muss: Bei Ihrer Auf- und Abhüpffrequenz würde ein normales Knochenmaterial ja ziemlich schnell zermahlt werden. Ebenso unverwüstlich erwiesen sich auch die Handgelenke des Drummers. Und auch wenn beide sicher in alle Ewigkeiten hüpfen und trommeln hätten können und dies vielleicht auch in diesem Moment tun, war es nach einer sehr interessanten und fast zu kurzen Show dann doch Zeit, die Bühne für die nächste Band frei zu räumen.
Kommen wir also nun zum nächsten anatomischen Wunder: "Hopeless" der Frontmann der fünfköpfigen US-Band Phantom Limbs. Ich hatte es schon kurz vor dem Konzert läuten hören, dass die Band, insbesondere der Sänger, einen etwas müden Eindruck machen würde. Was angesichts dessen, dass dieses Konzert das letzte einer Tour quer durch Europa war, ja wohl mehr als verständlich ist. Beim Betreten der Bühne wirkte Hopeless, der an diesem Abend seinen Geburtstag hatte, ja wirklich wie ein alter Mann. Er machte seinem Künstlernamen – denn ich hoffe nicht, dass ihn seine Eltern wirklich so tauften - alle Ehre. Eine spektakuläre Bühnenshow war also wohl kaum zu erwarten und ich empfand tiefe Sympathie für die ausgebrannte Truppe.
Doch bald zeigte sich, dass ich die Situation "leicht" verschätzt hatte! Während des ersten Liedes schraubte ich noch an meiner Kamera herum, da ja auf der Bühne keine Action zu erwarten war. Als ich aber dann während des zweiten Liedes auf die Bühne sah, kam es mir so vor, als ob sich irgendwas verändert hatte. Okay das Publikum bewegte sich immer ekstatischer und einige Leute hinter mir johlten, aber der Grund dafür, blieb mir noch verborgen. Bis ich den Blick auf den nun gar nicht mehr so alt aussehenden Fronter richtete. Er hatte nämlich beschlossen, sich mehr Freiheiten zu gönnen und sich nicht von so etwas Nutzlosem wie Unter- und Überhosen einschränken zu lassen. Das Hemd, das er zum zweiten Lied noch anbehalten hatte, durfte aber auch nicht lange an seinem Platz bleiben. Neben seiner Originalfunktion fungierte das Hemd dann auch als Lendenschurz später als Krawatte, um dann im weiteren Verlauf des Abends ebenso verschollen zu sein, wie Hopeless andere Kleidungsstücke. Dafür war die Band aber mehr als präsent und der Sänger viel öfter im ekstatisch feiernden Publikum zu finden als auf der Bühne. Der gesamte Konzertverlauf gestaltete sich dann nach den Zeilen aus ihrem Lied Active Verbs:
i'll tell them that i'm doing something
not that something's doing me
i'll tell them that i'm making something
happen not that something's happening
Das haben die Phantom Limbs an diesem Abend auch wirklich erreicht, denn es geschah an diesem Abend nichts, was man auch nur annähernd mit einer Passiv-Form beschreiben hätte können.
Nur eine einsame Socke vor der Bühne erinnerte noch an das großartige Konzert und dessen Auswüchse. Wer weiß, vielleicht ist sie ja immer noch dort und wartet (vergeblich) auf etwas Vergleichbares? Viel zu erzählen hätte sie auf jeden Fall!
Nachtrag:
Wenn ich in der Beschreibung des Phantom Limbs Konzertes nicht wirklich auf den Musikstil der Herren eingegangen bin, liegt das daran, dass ich diese Musik nicht "schubladisieren" möchte. Ich kann jedem nur empfehlen, die Phantom Limbs für sich selbst zu entdecken. Am besten live! Es lohnt sich!
Allgemeine Infos
Dieses "Minifestival gegen Anstand und Moral" wurde von zwei Herren organisiert, die eigentlich in der schwarzen Szene angesiedelt sind. Trotzdem haben sie es sich nicht nehmen lassen, über den Szenen-Tellerrand zu blicken und sowohl mit ihren alle zwei Monate stattfindenden Parties als auch mit halbjährlichen Konzerten nicht nur die "Gothen" sondern auch Mitglieder anderer Subkulturen, sowie normalsterblich aussehende Menschen – wie meinereiner - zu beschallen. So sah man beim Konzert am 23. Oktober etwa Psychobillies neben Punks pogen, sah die Schwarzen - von punkig bis barock - mit den Normalsterblichen "schunkeln" (okay böse Unterstellung meinerseits: es lebe die Pressefreiheit). Auch der Veranstaltungsort, sonst eher Heimat der amerikanischen 50er Jahre, hat wesentlich zu dem "intersubkulturellen" Flair beigetragen. Bei dieser Atmosphäre stört es dann weniger, trotz müder Beine sich ebendiese ein Weilchen vor Konzertbeginn in den Bauch stehen zu müssen und auch nach dem Konzert ein wenig warten zu müssen, bis die Bühne dann geräumt war und die Tanzfläche betanzt werden konnte. Insgesamt war also mein Eindruck ein sehr positiver, vor allem weil ich es immer schön finde, wenn Vertreter vieler Szenen gemeinsam feiern - was auch immer jeder einzelne darunter verstehen mag. Gerade weil es durch die Größe der einzelnen Subkulturen immer einfacher wird, dass deren Mitglieder im eigenen Saft kochen und außerhalb ihrer Szene nichts Anderes mehr sehen können/wollen/müssen, ist es ja nahezu eine kulturelle Notwendigkeit Konzerte oder Parties, bei denen nicht jede einzelne Gruppe für sich abgeschottet ist, zu besuchen. Das hält geistig jung und flexibel und macht darüber hinaus auch noch Spaß (und vielleicht auch einen schönen Teint)!
Marlies Staudacher
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