Vom Schweigen und Toben

So hatte ich letzten Montag einmal die außerordentliche Gelegenheit im Rahmen des im WUK veranstalteten "SeriousPop" Festivals eine Seite der Musikbranche (die osteuropäische) kennen zu lernen, von der ich vorher partout keine Ahnung hatte, und mit großer Neugierde machte ich mich auf den Weg. Von der für mich dunklen Seite der obig erwähnten Musikbranche, oder besser gesagt Richtung, gibt mir höchstens ein Utensil meiner Plattensammlung punkto YU-Rock Aufschluss, nämlich eine alte Platte mit dem verheißungsvollen Titel "JUGOBEAT!" – 16 Mid Sixties PUNKERS from YUGOSLAVIA. Die schwarze Scheibe habe ich ehedem an den Kais zur Seine um 100 Francs erstanden...
Gehört zum letzten Mal gewiss 2000, war ich äußerst gespannt auf die an diesem Abend musizierenden Gruppen 368DX (Russland) und Gogol Bordello (Ukraine/New York). Gemeinsam mit Fotograf Stefan machte ich mich auf den Weg, quer durch die altehrwürdigen Gemäuer des Vorhofs, hinein in den Vorraum des Veranstaltungsraums. Obwohl verspätet eingetroffen, fanden wir ein verhältnismäßig kleines, dafür umso ausgefalleneres Publikum vor, das bereits gespannt auf die Auftritte wartete. Nach diversen Soundchecks war es endlich soweit. Jemand verkündete, wir sollten doch in den großen Raum übersiedeln. Gesagt, getan. Man vernahm zuerst eine Bühne in Dunkelheit getaucht. Plötzlich von farbigem Scheinwerferlicht beleuchtet, konnte man einen Mann im schwarzen Anzug mit einer PC-Tastatur (!) erkennen. Das musste Frontman Alexei Shulgin sein. Elegant (es musste auch ein Designeranzug sein), mit dickem Brillengestell und halblangen Haaren, erinnerte er bisweilen an den jungen Eric Clapton. Nur passte die Tastatur nicht ganz ins Bild, war doch letzterer ein Gitarrengott. Verblüfft musste ich feststellen, dass man auch mit einer stinknormalen Tastatur musizieren kann. Dazu braucht man nur eine Leinwand, die ein bereits vorprogrammiertes Musikprogramm projiziert, das mit Instrumenten bestückt, vor einer Wall of Sound die gewünschten Akkorde einer Gitarre simuliert. Das hatte den Effekt, dass bei jedem Rhythmuswechsel Shulgin mit einem Druck auf sein Tonwerkzeug einen schwungvollen Gitarrenriff à la Keith Richards produzierte. Man stelle sich also vor, ein Mann und seine Gitarre, ähm Tastatur, mit einem Kabel zum Verstärker (in diesem Fall Computer, der wiederum elektronisch verstärkt wurde) verbunden steht auf der Bühne und singt. Halt! Doch dieser Musiker singt nicht. Er schweigt, und das ganz beharrlich. Selbst das "Dankeschön" kommt vom... richtig erraten, vom Computer. Sein elektronisches Vokalorgan, bis zur Unkenntlichkeit verzerrt (wobei hier zu beachten ist, dass man seine echte Stimme nicht kennt), gibt er alte Schlager oder besser gesagt Evergreens zum Besten, welche die Musikbranche einst revolutionierten, beziehungsweise einer ganzen Generation die Identifikation erleichterte. Man hörte an diesem Abend von California Dreamin’ bis Rape me zu I can’t get no satisfaction ein schmales Oeuvre der Sechzigerkultur sowie von modernen Vertretern, sprich jenen Leuten, deren Melodien noch in den Gehörgängen kleben bleiben. Konventionell verpackt im Synthesizerkleid, einer Stimme wie aus dem elektronischen Orbit, teils unterlaufen von Geräuschen, die hart an der Grenze zum Störenden wanken, spielt Shulgin seelenruhig seine ganz persönlichen Interpretationen, wobei er dazu gemächlich im Takt schwingt. Gut vorstellbar, dass sich Kurt Cobain in seinem Grabe umdrehen würde, doch bei aller Skepsis, es war genau dieses Element, welches eine große Faszination ausübte. Altes Liedgut in neuem Gewand, leichter zugänglich für die No-Future-Generation, wo sich jeder sein Klangerlebnis zuhause am Computer zaubert und alte, beinahe klassische Instrumente dem Spaßfaktor nicht mehr genügen. Extrem passend für heutige Bedürfnisse und Umgebungen. Fragend und vorurteilbehaftet sehe ich die Menge, wie sie in einem Halbkreis sich beschwingt um die Bühne versammelte (der Mann im Anzug wirkt vielleicht doch zu kühl), direkt davor ein paar "aufgescheuchte" Fotografen.
Zu fotografieren gab es tatsächlich einiges. Neben der Computeranlage und dem Künstler gab es noch zwei (Amateur)tänzerinnen zu sehen, die knapp bekleidet in engem Schwarz (natürlich Kleidern und keine Strapse) ab und zu einen Einblick in ihre Unterwäsche gewährten. Manchmal gerieten sie etwas aus dem Takt, doch boten sie eine alles in allem gute Lösung, für die betont einfache Bühnenshow.
Musikalisch gesehen hatte die Performance von Alexei Shulgin nichts mit seinem Herkunftsland zu tun, sondern vielmehr mit einer sehr persönlichen Annäherung an die amerikanische und europäische Popkultur, die erst nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in Gefilde jenseits des Eisernen Vorhangs überschwemmten.
Überrascht und doch sehr befriedigt, wieder einmal alte Songs in dieser Lautstärke vernommen zu haben, ging ich nach draußen auf der Suche nach Frischluft und Stille. Da letztere nicht eintrat (das Vibrieren in den Ohren), wollte ich mir zum ersten Male einen Gehörschutz kaufen. Nach einem verwirrenden Einstand am Eingang (Wo ist die Maus?! Oder die Frage nach dem Stempel) konnte ich noch nicht ahnen, wie sehr ich die Neuerwerbung brauchen würde.

Also traten Gogol Bordello (alias Eugene Hutz) auf, Ursprungsland jenseits des Urals, jetziges Wirken und Arbeiten in New York. Die Ankündigung spricht von einem "ukrainischen Zigeuner-Punk-Cabaret". Hört sich vielversprechend an, denke ich mir und trete ein in den Tempel des Lärms. Zu bedenken sei jedoch, dass selbst hinter dem größten Lärm normalerweise noch ein Konzept steckt und so muss es auch diesmal gewesen sein. Keine Tastatur, keine Tänzerinnen mehr, sondern eine Konstruktion wie für einen Star-DJ ohne irgendwelchen Flitter. Frontman Hutz steht cool an seinem Pult, einen schwarzen Mantel mit Stehkragen, Oberlippenbart und er hat zweifellos den Swing im Blut. Assistiert von einem Assistenten in Gelb, der ab und zu an den Knöpfen drehte oder den Künstler mit Wein und Zigaretten versorgte. All das hatte etwas sehr Verwegenes an sich und kurz tauchen Bilder von Zigeunerwagen und Lagerfeuer auf, von Menschen die angeheitert im Kreis tanzen. Dummes Klischee so etwas, denn diese Musik ist eine der Moderne. Knallharte Beats peitschen aus den Boxen direkt in meinen armen Gehörgang, gemixt mit Instrumenten typisch für den Südosten Europas, wie Flöte oder Schelle. Alles elektronisch wohl gemerkt. Zum Abtanzen, zum Aufreißen. Und der Spaßfaktor katapultiert sich ins Unermessliche. Und tatsächlich scheint der Gehörwaschgang auf das Publikum überzugreifen, tanzende, zuckende auch springende Gestalten an vorderster Front, dahinter Augen der Ver- oder Bewunderung. Ein Fest der Sinne, ein Ja zum Leben, meilenweit entfernt von Eric Clapton und den Tränen des Himmels. Dieser Mann ist in erster Linie Performer mit Leib und Seele, dessen Blut in den elektronischen Klängen vibriert.
Je länger der Abend, desto spärlicher die Bekleidung des Frontmans. Es handelte sich hierbei aber keineswegs um eine Stripshow, sondern um ein Übermaß an Leidenschaft, für das normalerweise die Kleidung Tribut zollen muss. Also weg mit den verschwitzten Fetzen und ran ans Eingemachte. Hutz tanzt, springt, hüpft (sehr exhibitionistisch), schreit, tobt, heult, faucht, rappt, keucht, dreht (zur Abwechslung an den Knöpfen seiner Anlage) und singt (ab und zu mit zwei Mikros). All das in einer Sprache, die zumindest ich nicht verstehe. Dazu vollführt er akrobatische Turnübungen. Den Leuten scheint es zu gefallen, da sie sich exstatisch zu den ausgefallensten Verrenkungen verführen lassen. Ich hingegen bewege mich tiefer in ein Neuland, in dem andere musikalische Gesetze zu herrschen scheinen, und beobachte mit halboffenem Mund das Treiben auf der Bühne. Dabei strömt der harte und unerbittliche Rhythmus auch in meine Glieder und veranlasst mir ein paar unbeholfene Bewegungen ab.
Schließlich kam ich zu dem Schluss, dass die Qualität des Auftritts weniger in der Substanz lag, sondern vielmehr in der Art der Verführung und der Übertragung, also dem Weitervermitteln einer Botschaft mittels Gefühlen. Und die Takte dienen nur als Transistor, um diesen Prozess einzuleiten. Und so verlasse ich halb gehörgeschädigt (ein äußerst sensibles Organ bei mir) das Event, aber dennoch glücklich, in dieser Woge der Leidenschaft gebadet zu haben.

Michaela Drescher

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