Die Stille vorm Applaus

Für all jene, die Keith Jarretts Programm Solo Piano im Musikverein an einem Sonntag Abend, genauer gesagt, dem 14.11.2004 gesehen haben, soll dieser Beitrag der Erinnerung gewidmet sein; für alle anderen ist er zeitlos.
Auf meinen ausdrücklichen Wunsch hin, wollte ich mich einmal von den verrauchten Fabrikshallen und den heruntergekommenen Szenetreffs verabschieden, um in Sauberkeit und Nostalgie zu schwelgen, ohne über halbleere Bierbecher zu stolpern, mir meine Sohlen an glühenden Zigarettenstummel zu verbrennen oder von schweißgebadeten Fanatikern herumgeschubst zu werden. Der große Saal des Musikvereins ist ein Ort der Harmonie. Kristallene Luster, Wandvertäfelungen mit Fresken, weißen Schwänen und goldenen Blättern. Das Auditorium ist streng nach Stühlen geordnet und für die eingeladene und die größtenteils zahlende - und vielleicht auch wohlhabende - Gesellschaft bestimmt, die sich bei Bedarf noch in die seitlichen Logen zurückziehen darf. Für das musikbegeisterte Fußvolk bleibt nur noch der Balkon, wo die Sicht teilweise durch zwei mächtige Säulen verstellt wird. Im Zentrum die Bühne, der Altar, auf dem Zeit den musikalischen Klängen geopfert wird, in welcher Zusammensetzung auch immer. An diesem Abend jedoch war der Hauptakteur ganz zu Beginn ein schwarzer Flügel. Ein edles Instrument, glänzend und anfänglich stumm, majestätisch der Wiedergabe von Tönen verpflichtet. Doch sollte im Zuge der Ereignisse dieses schöne Stück auch bespielt werden, nämlich von keinem Geringerem als dem amerikanischen Multitalent der avantgardistischen Musikwelt Keith Jarrett. Der mittlerweile bald sechzigjährige hat seine ganze Karriere der Klassik sowie dem Jazz gewidmet, diese beiden Richtungen individuell interpretiert oder kongenial miteinander verschmolzen. Das Album mit dem Namen Inside Out, das ich gerade in den Händen halte, bietet Tracks mit Titeln, die einer gewissen Vorstellungskraft nicht widersprechen zu scheinen; spielt man diese jedoch ab, verlieren sie komplett ihren Sinn, weil sie einzig und allein einer Improvisation des Künstlers entsprechen. Improvisieren in seiner reinsten Form bedeutet "neu erfinden" oder "wieder entdecken", ohne jegliche Vorbereitung der Darbietung einen Funken Authentizität zu verleihen, dabei aus dem inneren Talentfundus schöpfend, um ein Werk aus seiner plastischen, vorgebeben Dynamik zu befreien.
In unserem Zusammenhang bedeutet das ferner, dass Jarrett ans Piano tritt und dabei seiner Imagination freien Lauf lässt, freilich kombiniert mit dem Können des Ausnahmekünstlers, wobei ein besonderes Ambiente entsteht, nämlich das vom Musiker und einem Klavier, unverfälscht und natürlich wie bei allen großen Klassikkonzerten.
Der Ablauf der Zeremonie (oder wie kreiere ich mit einem Instrument eine Gegenwelt) beschränkte sich auf wenige Konstanten. Zum einen, einmal auf den Meister selbst: Mittelgroß und hager, ganz in schwarz, eine graue Wollweste als Kontrast, Brille mit dünnem Stahlgestänge – soweit ich erkennen konnte - zum anderen den bereits vorgestellten Flügel und schließlich das Publikum. Dieses nimmt hier eine ganz spezielle Rolle ein, ist es doch diesmal kein aggressiv grölendes, sondern ein situiert kultiviertes Publikum, das den Applaus als Gradmesser seiner Zustimmung verwendet. In solch feierlicher Atmosphäre erschwillt ein artiges (anfänglich noch leicht zögerliches) Klatschen, das später nach einer gewissen Gewöhnungsphase mit vereinzelten, im Vergleich zu anderen Events um schüchterne Zwischenrufe oder Pfiffe erweitert wurde. Dies geschah zum ersten Mal, als der Meister die Bühne betrat, sich dort verneigte und sogleich zu spielen anfing. Und es geschah zum wiederholten Mal, nachdem der Meister ein Stück beendet hatte. Und hierbei das Wesentliche: Das Publikum war sich ein paar Augenblicke nicht sicher, ob Jarrett seine Interpretation schon beendet hatte oder nicht. Erst als es sich ganz sicher war, ertönte der wohlverdiente Applaus. Die Periode dazwischen aber darf man uneingeschränkt als absolute Stille betrachten. Stille mitten im Konzertsaal, zusammengerechnet sicherlich eine halbe Minute. Weil man nicht erkennen konnte, wann ein Stück zu Ende ging, weil es nicht der Melodie, sondern dem Musiker überlassen war.
Ein Konzert ohne Songliste. Überraschung und Ahnungslosigkeit wechseln einander ab, in Erwartung sowie während der Rezeption. Die Möglichkeiten sind unbeschränkt, Jarretts Stücke bringen den herkömmlichen Kanon der Stile gehörig ins Schleudern, vermischt er doch klassische Ansätze mit halben Jazzstandards. Man könnte das ganze als hohe Kunst der musikalischen Meditation bezeichnen. Wie seine Hände über die Tastatur gleiten, diese bearbeiten, er sie beinahe als Medium seiner Vorstellungskraft missbraucht, während das Instrument diese in Töne, Halbmelodien umwandelt, ihr einen Sinn gibt oder sie gänzlich verwässert; kurz, Musik nach den Vorgaben des Künstlers von großer Einzigartigkeit und Schönheit hervorbringt. Eine Woge der Aufmerksamkeit durchdringt das Publikum, welche sich in den unterschiedlichsten Darstellungsformen manifestiert. Lässt man seinen Blick über die einen unmittelbar umgebende Zuhörerschaft schweifen, so sieht man sie gespannt auf den Mann vor dem Klavier hinunterblicken, andere an die Wand gelehnt, den Blick in der Ferne oder gar in Yogaposition mit geschlossenen Augen. Sie scheinen etwas zu suchen, vielleicht eine innere Ausgeglichenheit oder einfach ein bisschen Abstand zur alltäglichen Welt.
So harmonisch das Ergebnis, so virulent die Bearbeitung. Jarrett spielt teilweise im stehen mit energetischer Körpersprache, aus der eine ganz spezielle Leidenschaft spricht. Diese komprimiert und auf die Tasten übertragen, lässt sie unglaublich sanfte und weiche Resonanzen entstehen, so als ob die Finger bloß darüber streichen würden. Ein Timbre der Leichtigkeit erfüllt den Saal, oder bildlich gesprochen, es rauscht ein leiser Klangfluss.
Manchmal ist der Applaus lauter, manchmal verhaltener – es scheint doch so zu sein, dass sich das Publikum nicht ganz im klaren ist, was davon zu halten ist, sind doch die Stücke sperrig, beinahe ohne Melodie, nur als Klangkörper zu verstehen und ganz einer eigenständigen Kunst zuzurechnen. Offenbar spricht der Name für sich selbst und Jarrett hat ganz gewiss das Recht, seine Audienz zu überraschen, zu irritieren, zu schockieren. Auch löst seine Körpersprache einige Verwirrung aus, die sich zuweilen in amüsiertes Schmunzeln übergeht. Doch das ist wohl sein Stil, seine ganz besondere Note, sein Markenzeichen, etwas das jeder Künstler kreieren sollte.
Je länger der Abend dauert, desto größer die Begeisterung. Knappe zehn Stücke gibt Jarrett zum Besten, Zugaben miteingerechnet. Und somit nimmt gegen Ende die Veranstaltung tatsächlichen, oder wenn man will klassischen Konzert- bzw. Eventcharakter an, als die vielgerühmte Stille aus ihren Angeln gehoben wird und von auf den Boden stampfenden Füßen versenkt wurde, begleitet von energischen "Zugaberufen". Der Meister zeigte sich von solch (un-)erwarteter Popularität höchsterfreut und erschien sogar zweimal, um noch einmal (und zum wiederholten Male) dem bereits verstummten Flügel neue Variationen zu entlocken. Erst bei der dritten Aufforderung des Publikums, die bereits halbherzig und von der allgemeinen Gewissheit durchtränkt war, dass Jarrett nicht wiederkehren würde, schmolz die Begeisterung zu einem Abschiedsapplaus der Würdigung für einen großen Künstler. Das letzte was ich sehen konnte, war das schwarze Instrument, allein auf der Bühne inmitten dem Getöse. Und es blieb – selbstverständlich – stumm und verneigte sich nicht, wie Minuten zuvor sein Meister.

Michaela Drescher

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