Große Bands in kleiner Stadt

Wenn man als Wiener nach St. Pölten gerät, so hat dies in der Regel einen speziellen Grund. Denn als solcher schätzt man meist die Privilegien der Großstadt, muss seinen Bezirk selten verlassen, sei es zum Einkaufen, für Spaziergänge oder um nach Kulturangeboten zu suchen. Nicht dass St. Pölten nicht schön wäre – die beschauliche Stadt ist sicherlich nicht nur aus politischen Gründen die Hauptstadt Niederösterreichs – es ist einfach zu nahe bei Wien, um interessant zu sein, und zugleich zu weit weg, um irgendwie zum engeren Interessensfeld zu gehören. Zumal aber nur ein kleiner Teil der Österreicher Wiener sind, fängt bei dieser Denkweise genau da das Problem an. Wächst man in der Provinz fern von Wien auf, so erscheinen die erreichbaren kulturellen Freuden gering – sofern man keinen Führerschein sein eigen nennt und auch nicht eine mehrstündige An- und Abreise in Kauf nehmen möchte. Die durchschnittliche abendliche Beschäftigung basiert somit zumeist auf gelangweiltem Herumsitzen und Radio hören – was FM4 erkannt haben dürfte: Schließlich wurde der erste Teil der FM4 Tour vor Graz und Feldkirch in einem Gebiet untergebracht, das ausnahmslos von musikhungrigen Jugendlichen belagert zu sein scheint und trotzdem gleichzeitig nahe genug an Wien ist, um einen unterhaltungstechnischen Ausflug bei Eintritt der Dämmerung einmal anders herum ablaufen zu lassen. Nicht nur diese Exklusivität machte die Massenveranstaltung mit Festivalcharakter so interessant – auch die Preispolitik ergänzte diese Marktlücke auf einzigartige Weise. Für gerade mal 10 bis 14 Euro (je nach Kundenstatus bei diversen Banken/Mobilfunkanbietern bzw. Zeitpunkt des Kaufes) gab es vier vielgelobte Bands zu sehen.

Entsprechend groß war der Andrang vor den Toren des aus Warehouse und VAZ bestehenden riesigen Komplexes neben der Autobahn, als pünktlich um 20 Uhr die Pforten geöffnet wurden. Das Programm schien straff organisiert: Überall hingen Zeitpläne was wann und wo zu sehen war, an die man sich auch hielt – fast wie bei einer minutengenau organisierten Radiosendung. Die Atmosphäre, ein seltsames aber erfrischendes Durcheinander aus familiär und extravagant, war angeheizt von Emotionen der Besucher, der Musiker und DJs, der Moderatoren. Bizarre Visuals gestalteten diverse Leinwände als Hintergrund der riesigen Bühne, Scheinwerfer erhellten das Geschehen auf dieser sowie die freudetrunkenen Gesichter und empor gestreckten Arme der ersten Reihen.

Bunt bestrahlt wurden diese, als Chikinki, die erste Band des Abends, ins Blickfeld stürmten. Die junge Combo aus Bristol spielte fröhlichen Brit Pop gewürzt mit frechem Rock und einer Prise eingängiger elektronischer Klänge. Hinzu kam, dass die Musiker allesamt einer Mischung aus Brad Pitt und einem frühen Johnny Depp entsprachen, was besonders den jüngeren Teil der anwesenden weiblichen Zuschauer in Entzücken versetzte. Auch die Männer durften sich amüsieren: Der Saal wurde mit jeder Bewegung (und getanzt wurde viel) wärmer, Hüllen fielen, rotbackige teils minderjährige Schönheiten leuchteten mit großen Augen einen jeden an, der etwas Positives über Chikinki sagen konnte – was nicht schwer fiel. Wild jagten die falschen Brad Pitts über die Bühne, ihr Anführer schnitt alberne Grimassen, stieß mal kitschige, mal ernste Töne ins Mikrophon, trank dazu viel Bier. So temporeich ihr Auftritt begonnen hat, so schnell war er auch wieder zu Ende. Noch fast bevor die jungen Männer vollständig die Bühne verlassen hatten, wurde schon mit den Aufräumarbeiten und Vorbereitungen für Robocop Kraus begonnen. Schließlich wurde die Performance der Gruppe mit dem unaussprechlichen Namen heiß und innig erwartet.

Nach kurzer Pause, von einem DJ gut überbrückt, traten The Robocop Kraus ins Rampenlicht. Ein lauter Chor aus (männlichen und weiblichen) Begeisterungsrufen formierte sich wellenartig im riesigen Saal, das Publikum wirkte gleich viel reifer, die Stimmung entspannter. Man erwartete gute Musik und bekam diese auch zu hören. Hatte die Band zwar in den letzten Jahren mehr Alben als so manche andere veröffentlicht sowie mehr Shows gespielt, so fehlte es ihnen trotzdem nicht an Energie, ihre Darbietung einmalig werden zu lassen. Die Nürnberger legten sich schwer ins Zeug, rasten und sprangen beharrlich auf und ab, quälten bedächtig ihre Instrumente, um ihnen unaufhörlich die schönsten Töne zu entlocken. Ein Hauch des Staunens zog durch den Raum, minderjährige Wir Sind Helden-Fans freuten sich über eine Neuentdeckung, der Rest des Publikums über die Kraft, die in den präsentierten Kompositionen steckte. Manchmal durch üppigen Nebel, oft durch rotes, grünes oder blaues Licht geheimnisvoll verhüllt teilten sie die Magie ihrer Musik mit den gefesselten Zuschauern. Jene einer bestimmten Kategorie zuzuordnen fällt schwer: Mal handelte es sich dabei um Pop, mal um Alternative, mal war es Rock. Ihrem individuellen Stil blieben sie dabei während der gesamten Show treu, prägten die Stimmung und die Erinnerungen an diese Nacht. Viel zu früh war das Konzert vorbei, mit Verbeugung vor der tobenden Menschenmasse verabschiedete sich die Band, während Tausende hochgestreckte Arme fast wehmütig ein letztes Mal ihren Idolen zujubelten.

Lang bevor der Special Guest des Abends, Wir Sind Helden, die Bühne bestieg, kündigte sich seine Präsenz durch schrilles Pfeifen und Schreien im Publikum an. Eigentlich handelte es sich dabei um eine relativ kurze Zeitspanne, die sich durch die Geräuschkulisse zu einer Ewigkeit hinzog. Die durchschnittliche Größe der Besucher in den ersten Reihen minderte sich sekündlich, ebenso das Alter. Dafür wurden die Stimmen heller, die Atmosphäre jugendlicher. Wessen Ohren das durchbohrende Gekreische nicht aushielten, rettete sich nach hinten. Was blieb, war ein unzählbarer Schwarm von ungeduldigen Halbwüchsigen und eine Handvoll höchst verzweifelter Fotografen, die der Gewalt erster Gruppe ausgeliefert schienen. Spätestens jedoch als das erwartete Quartett endlich heiter der Menge entgegen lächelte, stellten sich die akustischen Qualen ein. Immerhin wollte ein jeder ihre Helden spielen hören, anstatt sie zu übertönen. Die jungen Musiker stimmten flott mit eingängigen Melodien ein, gaben der brodelnden Masse jede Gelegenheit, enthusiastisch mitzusingen und mit den Hüften im Takt zu wackeln. Auf dem Programm standen neue und alte Hits, von "Guten Tag/Die Reklamation" über "Denkmal" bis hin zur neuen Single "Von Hier An Blind". Die Sekunden zwischen den einzelnen Songs wurden wieder und wieder von der Ausdauer jugendlicher Stimmbänder gewissenhaft untermalt, deren Kräfte durch den ganzen Saal schwappten. Auch erste Stagediver ließen sich blicken, zur großen Freude der strengen Security-Riesen, die den Bühnengraben drakonisch bewachten. Wer sich von all diesem Geschehen nicht ablenken ließ, bekam nicht nur auditiv so einiges geboten: Frontfrau Judith strahlte unschuldige Schönheit aus, die anderen Musiker klassische Coolness – ein Style welcher den lockeren Pop optisch wunderbar ergänzte.

Als letzte Formation der FM4 Tour gaben sich Denyo & The Denyos die Ehre. Was primär nach abgewrackter Las Vegas-Elvis Imitation klingt, entpuppte sich als unkitschiger Rap mit groovenden Beats. Denyo, der in den späten 90ern große Erfolge mit den Beginnern verzeichnen konnte, hatte nichts von seiner Aura verloren. Leider bekam dies der größte Teil des Publikums nicht mehr mit, da er sich jugendschutzbedingt bereits am Heimweg befand. Die Verbliebenen scharten sich nichts desto trotz begeistert um den Schauplatz, auf dem Denyo umgeben von seinen Kumpanen im Takt durch das Scheinwerferlicht glitt. Seine harten aber entspannten Raps wurden mal durch soulartigen Gesang untermalt, mal hatte man durch ein Saxophon das Gefühl, in einer finsteren Pariser Jazzkneipe zu sein. Diese Kombination der Stile erzielte eine einzigartige lässige Stimmung in der Zuhörerschaft, die so einen legeren Ausklang der Nacht zelebrieren konnte – oder man blieb, um noch einer Menge aufspielender DJs zu lauschen.

Eva Fischer-Ankern

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