The Thing behind the Sun

Es war an einem kühlen Novemberabend, als mich meine Schritte automatisch und unglaublich zielstrebig an einen ganz besonderen Ort führten: Porgy & Bess, Fruit Tree – A Nick Drake Tribute. Ein außerordentliches Privileg. Überrascht war ich sogleich von der großen Menschenmenge, die sich bereits um halb acht vorm Eingang versammelte, denn ich dachte ursprünglich, dass Nick Drake in unseren Breiten eher unbekannt sei, beziehungsweise seine Musik altmodisch und angestaubt klingt. Offenbar weit verfehlt, denn dieser Abend sollte das Gegenteil beweisen.
Wie sehr ich mich getäuscht habe, zeigte bereits die Liste der angekündigten Performer, die an jenem Abend dem Werk des englischen Musikpoeten huldigten, indem sie ganz persönliche Interpretationen lieferten und dadurch eine ganz besondere Stimmung schufen. Dazwischen wurde der tragisch verstorbene Künstler selbst lebendig in Form von altem Filmmaterial, das während seiner kurzen Karriere gedreht wurde. Es zeigt einen gutaussehenden jungen Mann, der mit verträumtem Blick der Kamera und wohl auch der Welt begegnete. Dazu wurde eine kleine Auswahl seiner Songs gespielt, der man im allgemeinen andächtig lauschte.
Was nun die Person anbelangte, der dieser Abend gewidmet war, so umgibt diese Biographie die Aura des Tragischen. Beinahe nahtlos reiht sich Nick Drake in die Galerie der zu jung verstorbenen Musikschaffenden ein, mit dem entscheidenden Unterschied, dass seine Existenz nicht vom schnellen Ruhm überschatten war. Im Gegenteil. Aus Verzweiflung darüber setzte er seinem Leben (unabsichtlich) ein Ende. Sein Oeuvre umfasste nur drei Alben (Five Leaves Left, Bryter Layter, Pink Moon), die zwischen 1970-72 produziert wurden. Die erhofften Erwartungen auf den Durchbruch erfüllten sich nicht, die Platten erwiesen sich als Ladenhüter. Simply out of date. Dem zerplatzten Traum weichte die Depression, die mit dem Tod enden sollte.
Hört man heute seine Songs, so öffnet sich eine andere Welt neben der die heutige stillsteht. Trauriger Individualismus, der zu bestehen versucht, gepaart mit den Alltagsdingen, die einem in tausendfacher Vergrößerung märchenhaft erscheinen. Man wandelt dabei auf den Pfaden der eigenen Einsamkeit, direkt in den Abgrund hinab. Wurde beim ersten Album noch mit Kammermusik experimentiert, so zeigt sich sein letztes in ungewöhnlicher Klarheit, die von spärlicher Instrumentierung und einer jugendlichen, vom Weltschmerz erfassten Stimme ausgefüllt wird. Skizzen eines Außenseiters von einem anderen Planeten.
Umso weltlicher präsentierte sich dagegen das Porgy mit seinen illustren Gästen. Traurigkeit wurde durch Stille und Eleganz ersetzt. Hübsch angezogene Leute tummelten sich in den Gängen, auf reservierten Plätzen nahm man sein Abendbrot zu sich und nippte am Rotwein. Erwartungsvoll blickten die Barflys ausnahmsweise auf die Bühne. Beringte Finger klammerten sich an die Galeriebalustraden mit Aussicht auf den Abgrund. Und dieser war an diesem Abend die Bühne. Diese erinnerte, wie sollte es an diesem Ort anders sein, an eine Jamsession. Instrumente, Kabel, hektische Techniker, unsichtbare Musiker. Ein Flügel im linken Abseits. Zwei Barhocker im Zentrum. Nach einer kurzen Einführung wurde das Porgy zur Kathedrale.
Die ansonsten womöglich in Konkurrenz stehenden Musiker wurden zu einer großen Familie. Jeder Act (darunter Wa:rum, Garish, Poney & The Seaweed, Robert Rotifer – um nur einige zu nennen) spielte drei bis vier Lieder teils aus dem eigenen Fundus, teils Neueinspielungen von Drake-Songs. Kleines Ambiente, große Wirkung. Ein stiller Strom durchflutete den Raum, man fühlte eine Art Zeitversetzung. Echte Tonwerkzeuge drangen ins Ohr, besonnenes Publikum lauschte den Interpretationen; fließend vollzog sich nach kurzer Pause der Wechsel. Man begegnete im Laufe der sechsstündigen Veranstaltung der Vielfalt einer ganzen Musikrichtung. Mal poppig, mal folklastig und dann energisch in gänzlich anderem Gewand. Wenn Drakes Werk einem vielleicht eintönig vorkommen mag (die eigentliche Natur des Folk auf instrumentaler Ebene!), dann bescherte dieser Abend eine nie da gewesene Mannigfaltigkeit, an dem man die Grenzen des Genres überschritt. Gerade dieser Aspekt sollte die Einzigartigkeit der Veranstaltung ausmachen, nämlich von einem Zentrum verschiedene Richtungen einzuschlagen, ohne sich dabei vom Grundthema zu entfernen. Was einem geboten wurde, hatte immer mit Nick Drake zu tun, es umkreiste, verarbeitete und interpretierte ihn. Seine Größe als Künstler wurde lebendig, seine Songs trugen besonders eindrucksvoll das Emblem der Zeitlosigkeit. Der Kreis begann sich zu schließen, so wie auf seinen Alben die irdische Welt im Stillstand begriffen war und nur mehr eine kleine Bühne mit den Performern wurde wichtig. Andacht statt wildem Gekreische, musikalische Ruhe statt Schweiß und Speichel. Einzig die Bartender und die Fotografen waren einer gewissen Hektik unterworfen.
Besonders schön war auch die Ernsthaftigkeit, mit der die Musiker ihre Lieder einspielten. Sie schienen sichtbar große Freude an dieser Zusammenkunft zu haben und genossen sichtlich ihre Auftritte und die daraus resultierende Stimmung.
Und als sich zu später Stunde die Musiker von den Gästen verabschiedeten, verbreitete sich – zumindest bei mir – ein Anflug von Wehmut und ein bisschen von jener Traurigkeit, die mich jedes Mal umgibt, wenn ich eine Nick-Drake-Platte einlege.

Michaela Drescher

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