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Back To The Roots
Während meines Sommers in Frankreich, hatte ich neben studieren, arbeiten & amüsieren noch die wunderbare Gelegenheit, eine Musikveranstaltung der ganz besonderen Art zu besuchen – dachte ich zumindest, nachdem ich die Einladung eines Freundes von mir aus Belgien erhielt. Ich solle doch vorbeikommen, und ob ich nicht gerne auch auf ein Festival mitkommen würde?? Gesagt, getan und Abfahrt im Schnellzug Paris-Brüssel. Nach einer kleinen Willkommensparty ging es am nächsten Vormittag bei Nieselregen auf nach Chapelle-lez-Herlaimont. Wohin? Also, nach Chapelle-lez-Herlaimont ist ein nettes kleines Industriekaff südlich von Brüssel, von dem ich nur ein paar Schornsteine und ein verstreutes Fabrikgelände sah, denn unser Kleinwagen folgte ganz automatisch einem schwarzen Pfeil mit der vielsagenden Aufschrift "Festival" in grellgrünen Lettern. Kein Stau, kein Massenandrang, keine feuchtfröhlichen Musikfreunde, die bei offenem Fenster auf die Fahrbahn kotzen. Alles extrem zivilisiert, vereinzelt Uniformierte, die den beinahe nichtexistenten Verkehr regelten. Und plötzlich vor uns, ein riesiger Parkplatz ohne Autos. Abstellen. Umsteigen. Zu unserer Rechten ein kleiner Geschäftemacher in einer großen Box. Hotdogs für 2 €. In einen ausrangierten Autobus (wahrscheinliches Baujahr 1950), der uns zum Festivalgelände bringen soll. Hotdoggeruch, Sprachengewirr, ältere Semester, mit breitkrempigen Hüten summen Blowing In The Wind. Mehr Uniformierte, mehr Menschen. Terrorgefahr? Mitnichten, es herrschen Friede und Freude nebst Schlagstock. Ein Schild verweist auf einen Bazar. Hier trifft man auf die Welt. Ländliche Durchschnittsmenschen mit wettergegerbtem Antlitz und schäbiger Tracht, versoffene Althippies, junge magere Zeitgenossen mit bodenlangen schwarzen Mänteln und silbernen Kreuzen, aufgeschlossene Stadtmenschen und jede Menge Freiwillige, die dafür verantwortlich sind, dass das Ereignis überhaupt stattfinden kann. Man trifft auch Che an fast jedem Stand, bewundert japanische Kimonos aus der Türkei, atmet Importiertes aus Holland. Hotdog, € 2,50; matschige Spaghetti 5 Euro und eine Brassband, die gratis ferne Weisen aus New Orleans (?) spielt.
Noch ist es zu früh, das Festival beginnt erst um fünf. Man hat also noch Zeit und spaziert zum nahe gelegenen Badesee (sicherlich sehr attraktiv bei angenehmerer Temperatur), doch uns war dies Wetter nicht vergönnt, in leichtem Nieselregen unternehmen wir also einen Rundspaziergang, wie diese Sonntagsspaziergänger mit ihren Wanderstöcken. Vorbei an einem verwaisten Campingplatz, mit sage und schreibe vier Zelten, feinsäuberlich auf Waldlichtungen geparkt. Nach der Berührung mit fast freier Natur wagt man sich doch, etwas Essbares zu sich zu nehmen. Mittlerweile, mit eingetretener Wetterbesserung, sitzt man im Freien mit einer brochette (einem kleinem Fleischspieß, einer sogenannte Spezialität in frankophonem Raum) und fettigen Pommes. Der Enthusiasmus meiner Freunde - nicht gespielt - sagt mir, dass sie es kaum erwarten können, ins Gelände zu dürfen. Meiner, hoffe überzeugend, stimmt ihnen freudig zu. Beim Eingang nun das übliche Terrorgetue. Flaschen, Dosen, Schirme, Kosmetika, Schlagstöcke, Handgranaten, Pumpguns – alles muss abgeliefert werden, um die Sicherheit der Besucher zu gewährleisten. Oh, ich irre mich hier gerade gewaltig, denn politisch verblendet und täglich im Angstschweiß aufwachend, habe ich beinahe vergessen, dass dies doch schon jahrelang Festivaltradition sei, nämlich sämtliches Handgepäck zu entblößen. Mein letzter USA-Flug geht mir eben nicht aus dem Kopf. So also doch keine Fingerprints, doch mein Schirm muss daran glauben und wird durch ein hellblaues Stück Papier ersetzt.
Vor uns nun die leere Bühne, denn es ist erst vier. Man bekommt Getränkemarken für 2 Euro das Stück und kann sich damit kaufen, was der Durst begehrt, egal, ob anti oder alkoholisch, alles kostet gleich viel. Also fließt sofort das Bier im fragilen Plastikbecher. Das restliche Publikum tut es uns gleich, im feuchten Gras auf Müllsäcken sitzend, in großer Erwartung. Für die wirklich alten Semester (bestimmt die Majorität bei dieser Veranstaltung) wurden drei Reihen von Plastikstühlen unter einer gestreiften Markise bereitgestellt. Ein Blick zurück und man würde meinen, man befindet sich auf einer Sonntagsmesse im Freien à la Mittlerer Westen. Ich kannte keinen der Life Acts, war jedoch froh darüber, keine amerikanische Squaredancetruppe angekündigt zu sehen, denn grundsätzlich lässt das Wort "Folk" in diesem Zusammenhang, Schlimmes in mir erahnen. Aber es ist ja auch ein CELTIC Festival, was heißen soll, dass obige Befürchtung definitiv ausfällt und europäische (folkloristisch traditionelle) Klänge zu erwarten seien.
So gegen dreiviertel fünf trat auf der Bühne hektisches Treiben ein. Verstärker wurden eingestellt. Verstärker???? Offensichtlich, damit man besser hören kann. Meine Wahrnehmung von Folkmusik war früher Bob Dylan mit Gitarre und statischer Mundharmonika ohne Verstärker. Oder doch mit? Wieder einmal komplett idiotisch, denn heutzutage, kein Konzert ohne Verstärker; selbst Nirvana haben anno dazumal bei MTV auch nicht ohne ebengenanntes Gerät unplugged gespielt.
Also eine moderne Interpretation, statt altmodischer Imitation. Emotionale Ernüchterung. Wo ist die gute alte Zeit? Muss denn alles, aber wirklich absolut alles ausgebeutet werden, damit die Massen hereinströmen und konsumieren? Das geheimnisvolle Wort "Konsum" ist auch hier allgegenwärtig, nur mit dem Unterschied, dass es sich hier um kleine Masse im intimen Kreis handelt, die Volksmusik hören möchte.
Das erste Gitarrenriff. Französische Begrüßung. Yeah. Stiller Applaus. Unsagbarer LÄRM. Goodbye Bobby. Die Band, Alka Celtes Airs, was immer der Name zu bedeuten hat. Woher sie auch kommen mögen, so um die sieben Musiker mit den verschiedensten Instrumenten, in den unterschiedlichsten Tonlagen musizieren. Oder machen eben Lärm. Zwei Kameraleute halten das Ereignis fest, das auf eine Großleinwand projiziert wird. Man sieht, dass sie bei der Sache sind. Amateure, aber mit Leidenschaft und ohne Melodie. Dementsprechend auch die Stimmung. Man schaut eben höflich auf die Bühne und bewegt sich schüchtern im Takt, wenn möglich.
Die zweite Runde kommt, mittlerweile zu viert und artig in französisch parlierend, vor steigender Lärmkulisse. Welch Anstrengung! So mögen vielleicht vierzig Minuten (ohne Zugabe) verflossen sein.
Der nächste Auftritt, bitte. Zuvor wunderliches Verbergen auf der Bühne. Ein Keyboard (!) – Yahama - Boxen und sonstiges technisches Accessoire wurden hinter Fischernetzen, Rettungsringen und Leinensäcken versteckt! Gerade so, als ob wir in einem kleinem normannischen Fischerdorf in einer Spelunke säßen und Rotwein vom Fass trinken. Aber hier ist die Realität und dieser Spuk soll nur vortäuschen, als ob wir tatsächlich dort wären. Sehr kreativ, wenn auch abschreckend. Die Musikanten in einer Combo namens Cré Tonnerre. Bitte sich nicht fragen, was das wiederum zu bedeuten hat. Dies überlässt man gerne den Experten. Auch das Wörterbuch hilft nicht. Der erste Tusch und schon spielt fröhlich die Musik, der Bandleader mit Ziehharmonika und wie die anderen auch in typischer, offensichtlich nordfranzösischer Tracht aus schwarzen Lederhosen, weißen weitärmeligen Hemden, roten Halstüchern und riesigen schwarzen Hüten. Der Sänger ist eine richtige Stimmungskanone, er springt vom linken Ende der Bühne auf das rechte und umgekehrt, im Schlepptau ein dickes schwarzes Kabel... Die andern schlagen, fiedeln, flöten, pfeifen auf ihre Instrumente ein, um eine wohlklingende Kombination aus Klängen zu erzeugen, die trotzdem wieder nur zu LÄRM zerfließt. Das Publikum, ein höfliches, duldet. Oder erfreut sich. Man blickt in die Mienen der Umstehenden und erntet gemischte Gefühle. Das muss nun ganz bestimmt die eingängigste Nummer sein. Sprechgesang als Strophe, mehrstimmiger Refrain, straßenmusikalisches Flair. Hier bricht das Eis. Ganze Familien schunkeln im Takt, andere kippen das Bier über den Becherrand, selbst meine Füße schlagen auf die aufgeweichte Erde. Kurz sind alle elektronischen Anlagen ganz weit weg, beinahe unsichtbar. Und die nächste Runde trifft ein. Dazu gibt es eine Art Schablone, mit der man ganze sechs Becher auf einmal tragen kann! Und die übernächste muss die meine sein. Zugabe!
Pausen zwischen den Auftritten. Man unterhält sich wieder, man betrachtet, man erzählt sich etwas. Ich meine Kurzgeschichte ungefähr zum bereits fünften Mal. Die Geschmacksnerven sind endgültig abgestumpft gegen die Bitterkeit des Bieres.
Au suivant. Merzhin. Eine vierköpfige Band mit einem charismatisch aussehenden Sänger, der sich bei näherer Betrachtung als französischer Eminem-Verschnitt entpuppt. Kahlgeschoren, energisch, aggressiv. Ein richtiger Folkie. Harte Drums peitschen den Beat, Eminem II. sprudelt über vor Worten, die zumindest ich nicht mehr verstehe. Bob lässt wieder einmal grüßen, oder auch Jonie. Irgendwie wird man den Eindruck nicht los, dass wir uns in einer öden Pariser Vorstadt versammelt haben, wo dieser Ghettoblastersound durch die grauen Straßen zu schallen scheint. Und mittendrin die rebellierende Jugend von heute, mit dem Rücken zur Sonne, die Augen wutentbrannt. Doch hier ist es idyllisch und friedlich und diese schwarze Bühne mit ihren lamentierenden Gesten ist wie ein Traum. Grün und grau vermischen sich, als wir uns fragend anblickten. Vielleicht habe ich aber auch alles gründlich missverstanden. Das hier ist der Folk von heute! Protestsong einmal anders. This land is your land, but not my land, akzentuiert und beschleunigt, mit dem Stempel der No-Future-Generation. Versteckte Gesellschaftskritik in ahnungslosem Ambiente. Nach dem Abtritt erfüllt sich die Stimmung mit Aggression. Ein Blick zurück zur Markise. Diese ist bereits verwaist, bis auf ein paar Hartgesottene.
Doch die nächste Band heilt alle Wunden und lässt das Publikum wieder näher zusammenrücken. Dan Ar Braz betreten die Bühne mit einer versöhnlichen Geste. Ein alter Mann mit Faserschmeichlerstimme im Zentrum. Zweifellos der Mastermind. Umarmt das Mikro und croont von Vaterland und Freiheit. Rührend. Die restlichen Bandmitglieder, genaue Anzahl entfallen, dudeln in gleicher Besonnenheit vor sich hin. Und tatsächlich, erstmalig ein Dudelsack, der natürlich – wie auch nicht anders zu erwarten – irgendwo angeschlossen war. Warum mich das so stört?? Das Synonym "Folk" muss in mir eine bestimmte Vorstellung davon eingebrannt haben. Eigentlich ist es doch logisch: Mittelgroße Bühne, mittelgroße Menge, Überdosis Strom. Ein Festival steht nun einmal für Lärm, alternative Lautlosigkeit und lautlose Konversation. Und so wie die Musik hier von der Bühne tropft, spannt sich gemächlich und träge ein Klangbogen, der die Leute im Stehen einschlafen lässt. Uhuhuuuhuuuuhuuu. Ein eindeutiger Fall: Zuwenig Substanz, zuviel Energie. Schlicht balladenhaft auf folkloristische Art und Weise. Mittlerweile ist die Sonne längst untergegangen. So auch meine Stimmung.
Doch die nächste Runde, meine, lässt sie wieder aufgehen. Man tuschelt, dass der nächste Act der zweifellos beste und berühmteste ist. Und nach langwieriger Vorbereitung tritt er auf, Punkt halb zwölf, der Star des Abends - Carlos Nùñez! Mit Band, seinem Bruder, einem Schlagzeuger und zwei leicht bekleideten Violinistinnen. Der Meister persönlich dürfte ein professioneller Flötist (!) sein. Auch dürfte er den Dudelsack beherrschen. Und plötzlich kommt etwas Unerwartetes: Stimmung! Zum ersten Mal während dieses Tages scheinen die Leute wirklich teilzuhaben, denn man spürt, dieser Mann versteht etwas von seinem Fach. Wenn er auch nur eine hölzerne Flöte bearbeitet, so tut er dies sonderbar atemberaubend; wenn seine Finger über das gerundete Stück Holz wirbeln und ihm die sonderbarsten Töne entlocken. Und all das in Höchstgeschwindigkeit. Vielleicht habe ich nie einen Musiker gesehen, der sein Instrument derart beherrschte. Die lächelnden Violinistinnen mit ihren verstärkten Geigen, der Schlagzeuger und der Flötenspieler. Musikalischer Grenzgang. Nicht wirklich mein Geschmack, aber doch irgendwie fesselnd. Die Freundin meines Freundes ist ganz entzückt. Und ich sehe schon, wie sie die CD des Meisters ins CD-Fach des Autoradios schiebt. Sie hat sich sogar schon ein Festival-T-Shirt zugelegt. Eine Freude, Menschen bei der Freude zu beobachten. Gute Miene zum bösen Spiel. Und doch spielt mein Körper verrückt. So wie fast alle anderen auch. Sonderbar und geheimnisvoll. Die Aura des Künstlers. Die Stimmung im Publikum schwappt auf die Bühne und wirkt ansteckend. Man ist plötzlich eine kleine Gemeinde inmitten der Dunkelheit, vom Scheinwerferlicht eingerahmt. Bunt verstreutes Volk, an einer einzigen verbindlichen Sache teilhabend. Der Höhepunkt eines jeden Festivals. Eine frenetisch geforderte Zugabe als würdiger Abschluss. Wenn da nicht der alte Mann von vorhin auf der Bühne auftauchen würde... Man umarmt sich auf der Bühne, man demonstriert Solidarität. Man spielt einen Volkstanz! Und (fast) alle im Publikum halten sich an den Händen und tanzen im Kreis. Wie im Kindergarten. Richtig nett.
Und schließlich verlässt mit man in stimmungsvoller, wenn auch leicht betrübter Atmosphäre das Gelände, um sich vom Shuttlebus zum Parkplatz chauffieren zu lassen. Alles ohne Zwischenfälle. Ein friedfertiges Festival. Und ich muss nochmals zurück, weil ich meinen Schirm vergessen hatte.
Michaela Drescher
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